Tagebuch einer Wanderung: Unterwegs am Gran Sasso in den Abruzzen
Montag, 8:15 Uhr – Ankunft in Assergi
Der Tag beginnt früh. Der kleine Ort Assergi liegt ruhig unter einem weiten Himmel, eingerahmt von sanften Hügeln und schroffen Felswänden. Noch hängt ein dünner Nebelschleier über den Dächern, während ich den Rucksack zurechtrücke. Es riecht nach feuchtem Gras und frisch aufgebackenem Brot. Die Stille hat Gewicht. Kein Lärm, kein Drängen – nur der Gedanke an den Gran Sasso, das höchste Massiv des Apennins, das dort drüben langsam im Sonnenlicht aufblüht.
Die ersten Schritte führen über eine enge Straße, bald ein schmaler Pfad, der sich durch ein Meer von Wiesen windet. Hier beginnt mein Aufstieg, begleitet vom Murmeln meiner Gedanken, dem Knirschen der Schuhe und dem Rufen eines Raubvogels, der über mir kreist.
Montag, 11:30 Uhr – Campo Imperatore
Nach einigen Stunden erreiche ich das Hochplateau. Die sogenannte „kleine Tibet Europas“, so nennen es manche, obwohl ich solche Vergleiche stets mit Vorsicht genieße. Es ist ein karger Ort, windumtost, weit und gleichzeitig geborgen. Der Horizont scheint sich hier weiter zu dehnen als anderswo. Kühe stehen wie Statuen in der Landschaft, vereinzelt blökt ein Schaf, ansonsten bleibt es still.
In einer alten Berghütte nehme ich einen kurzen Imbiss – Pecorino, getrocknete Feigen, frisches Wasser aus der Flasche. Hier, auf über 2.000 Metern, schmeckt alles intensiver. Mein Blick schweift über die Ebene, die in der Mittagssonne flimmert. Die Einsamkeit hier oben hat nichts Melancholisches. Im Gegenteil – sie wirkt klar und aufgeräumt.
Dienstag, 6:45 Uhr – Aufstieg zum Corno Grande
Die Nacht habe ich im Rifugio Duca degli Abruzzi verbracht, einfach, aber ausreichend. Um diese Uhrzeit schlafen die meisten noch, nur wenige Wanderer sind unterwegs. Der Weg zum Corno Grande – mit 2.912 Metern der höchste Gipfel des Apennins – liegt vor mir. Die Route ist anspruchsvoll, mitunter steinig und steil. Trittsicherheit ist hier keine Empfehlung, sondern Voraussetzung.
Der Himmel ist wolkenlos. Der Wind pfeift kühl aus dem Nordwesten. Schritt für Schritt nähere ich mich dem Gipfel, die Sonne im Rücken. Über mir ragen Kalksteinwände empor, wild und ungezähmt. Diese Landschaft erzählt Geschichten, nicht in Worten, sondern in Spuren – Erosion, Felsstürze, jahrtausendealte Gesteinsformationen. Man geht nicht einfach hier. Man durchwandert Zeit.
Dienstag, 12:15 Uhr – Am Gipfel des Corno Grande
Oben weht der Wind ungebremst. Ich blicke auf ein Panorama, das die Abruzzen in ihrer vollen Größe zeigt. Wälder, Täler, Felsformationen, so weit das Auge reicht. In der Ferne blitzen die Adria und die Hügel der Marken. Kein Laut, außer dem Wind und meinem eigenen Atem.
Der Moment am Gipfel ist kein triumphaler. Eher ein stilles Einvernehmen mit der Umgebung. Man ist nicht über etwas, sondern mittendrin – in einem Raum, der seit Jahrtausenden existiert, während das eigene Leben nur ein kurzer Wimpernschlag ist.
Mittwoch, 10:00 Uhr – Durch das Val Maone
Heute führt mich der Weg durch das Val Maone, ein tief eingeschnittenes Tal, das sich zwischen dem Monte Prena und dem Monte Camicia erstreckt. Es ist ein raues Gelände, durchzogen von Geröllfeldern, Bächen und dichten Wacholdersträuchern. Die Farben wechseln ständig: grau, ocker, grün, blassblau. Die Natur ist hier weder dekorativ noch gefällig. Sie zeigt sich unverstellt, ungeschönt – und gerade das beeindruckt.
Am Wegesrand entdecke ich Spuren von Steinböcken, ein Rudel Gemsen lässt sich in der Ferne erahnen. Sie bleiben auf Distanz, scheu, aber nicht ängstlich. Der Mensch ist hier nur Gast, einer von vielen. Man spürt diese feine Grenze, diese stille Übereinkunft zwischen Anwesenheit und Respekt.
Donnerstag, 8:30 Uhr – San Stefano di Sessanio
Nach drei Tagen in der Höhe kehre ich zurück in bewohnte Gefilde. Das mittelalterliche Dorf San Stefano di Sessanio liegt verschlafen auf einer Anhöhe. Kopfsteinpflaster, alte Steinhäuser, eine Bar mit starkem Kaffee und noch stärkeren Geschichten. Ich treffe einen alten Mann, der mir erzählt, dass die Region einst florierte, bevor das Erdbeben kam. Jetzt komme langsam neues Leben. Wanderer, Ruhesuchende, jene, die das Unverfälschte suchen.
Ich sitze auf einer Bank, das Gesicht in die Sonne gerichtet. Der Körper müde, der Kopf erstaunlich leer. Vielleicht ist das die größte Erkenntnis dieser Reise: dass Stille nicht leer ist, sondern offen. Dass Landschaft wirken kann wie Literatur – wenn man bereit ist, sie zu lesen.
Freitag, 7:00 Uhr – Abschied am Lago di Campotosto
Der letzte Tag. Ich fahre an den Lago di Campotosto, ein künstlich angelegter See, der dennoch wirkt wie natürlich gewachsen. Die Wasseroberfläche ist glatt, fast spiegelnd. Ich gehe noch einmal ein Stück am Ufer entlang, der Morgen ist frisch, in der Ferne kräht ein Hahn. Auf einem Baum sitzt ein Kuckuck.
In den vergangenen Tagen habe ich keinen überlaufenen Ort gesehen, keine überfüllten Parkplätze, keine Souvenirbuden. Der Gran Sasso ist kein einfacher Ort. Er verlangt Geduld, Respekt und Aufmerksamkeit. Wer sich auf ihn einlässt, wird nicht mit schnellen Eindrücken belohnt, sondern mit einem Erleben, das nachhallt – still, klar, echt.
Abschließende Gedanken
Wandern in den Abruzzen bedeutet nicht nur Bewegung, sondern Begegnung – mit einer Landschaft, die nichts vormacht und nichts will. Der Gran Sasso ist kein „Highlight“, kein Postkartenmotiv. Er ist einfach da. Und gerade darin liegt seine Kraft.
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Meta-Beschreibung:
Wandertagebuch vom Gran Sasso: Eindrücke einer mehrtägigen Wanderung durch die Abruzzen – ehrlich, ungeschönt und intensiv. Mit Tipps für stille Wege und besondere Erlebnisse.
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